Unsere Analyse von über 1.200 Anträgen auf Pflegeleistungen zeigt ein überraschendes Muster: Die Ablehnungsraten hängen massiv von der Art des Antrags ab. Während Pflegegrad-Anträge nahezu gleich behandelt werden (18,1% vs. 18,4%), ist die Ablehnungsrate bei Hilfsmitteln für Nicht-Muttersprachler mehr als doppelt so hoch wie für Muttersprachler (33,3% vs. 12,7%).
Das sind keine marginalen Unterschiede – das ist eine 2,6-fach höhere Ablehnungsrate. Anders ausgedrückt: Jeder dritte Antrag auf Hilfsmittel von Nicht-Muttersprachlern wird abgelehnt, während es bei Muttersprachlern nur jeder achte ist.
Die Unterschiede bei Hilfsmittel-Anträgen sind dramatisch: Während nur 12,7% der Anträge von Muttersprachlern abgelehnt werden, sind es bei Nicht-Muttersprachlern 33,3% – fast dreimal so viele.
Ablehnungsraten in %
Besonders auffällig: Bei Pflegegrad-Anträgen gibt es praktisch keinen Unterschied (18,1% vs. 18,4%). Bei Hilfsmitteln hingegen beträgt die Differenz 20,6 Prozentpunkte – Nicht-Muttersprachler werden 2,6-mal häufiger abgelehnt.
Die 2,6-fach höhere Ablehnungsrate bei Hilfsmitteln verlangt nach Erklärungen. Mindestens drei Faktoren könnten zusammenwirken:
Ob dieser strukturelle Unterschied die Diskrepanz vollständig erklärt, lässt sich aus unseren Daten nicht eindeutig belegen. Aber das Muster ist auffällig: Wo standardisierte Verfahren mit persönlicher Begutachtung greifen (Pflegegrad mit MD), sind die Ablehnungsraten nahezu identisch. Wo mehr Ermessensspielraum besteht und Entscheidungen am Schreibtisch fallen (Hilfsmittel durch Krankenkassen), entstehen massive Unterschiede.
Bei Pflegegraden sieht der Gutachter vor Ort, ob jemand sich selbstständig anziehen, essen oder zur Toilette gehen kann. Diese Fähigkeiten lassen sich beobachten – Sprachkenntnisse spielen eine untergeordnete Rolle. Bei Hilfsmitteln hingegen basiert alles auf der Überzeugungskraft eingereichter Dokumente.
Hilfsmittel-Anträge sind erklärungsbedürftig. Die Krankenkasse will wissen: Warum dieses spezielle Modell und nicht der günstigere Standard? Warum ein elektrisches Pflegebett statt eines manuellen? Warum dieser spezielle Rollator mit Zusatzausstattung?
Wer das nicht überzeugend formulieren kann, gerät ins Hintertreffen. Viele Nicht-Muttersprachler scheitern nicht an der grundsätzlichen Kommunikation, sondern an Behördendeutsch und medizinischer Fachsprache.
Dazu kommt ein Informationsproblem: Viele Nicht-Muttersprachler wissen schlicht nicht, welche Hilfsmittel ihnen zustehen. Diese Informationen findet man auf Krankenkassen-Websites – oft in kompliziertem Deutsch.
Könnten Krankenkassen-Sachbearbeiter Anträge unterschiedlich bewerten – bewusst oder unbewusst – basierend auf Namen, gebrochenem Deutsch oder erkennbarem Migrationshintergrund?
Die Forschung zu Unconscious Bias ist eindeutig: Unbewusste Vorurteile sind real und messbar. Bewerbungen mit türkisch oder arabisch klingendem Namen werden bei identischer Qualifikation seltener zu Vorstellungsgesprächen eingeladen – in Deutschland um etwa 30% seltener.
Unsere Analyse zeigt klare Unterschiede in den Ablehnungsraten, aber sie kann nicht alle Fragen beantworten.
Wir wissen nicht, ob die abgelehnten Anträge objektiv schlechter waren. Vielleicht waren die Anträge von Nicht-Muttersprachlern tatsächlich weniger gut begründet, unvollständiger oder unklar formuliert. Das würde Ablehnungen rechtfertigen. Aber: Es würde nicht rechtfertigen, dass das System so aufgebaut ist, dass Sprachkompetenz über die Bewilligung entscheidet.
Wir wissen nicht, wie groß der Anteil unbewusster Diskriminierung ist. Vielleicht sind es 5% der Fälle, vielleicht 50%. Unsere Daten können das nicht trennen. Aber selbst wenn es nur ein kleiner Teil wäre: Es wäre inakzeptabel.
Was wir mit Sicherheit sagen können: Das aktuelle System benachteiligt Nicht-Muttersprachler massiv. Ob durch Sprachbarrieren, fehlende Unterstützung, strukturelle Unterschiede im Verfahren oder Diskriminierung – am Ende haben Menschen mit eingeschränkten Deutschkenntnissen 2,6-mal schlechtere Chancen auf Hilfsmittel.
Die Ergebnisse dieser Analyse sind ein Weckruf für das deutsche Gesundheitssystem. Krankenkassen könnten schon morgen damit beginnen, Informationsmaterialien und Formulare in den wichtigsten Einwanderersprachen anzubieten – Türkisch, Arabisch, Polnisch, Russisch und Englisch wären ein Anfang. Dass im Jahr 2025 noch immer Anträge scheitern, weil Behördendeutsch zur unüberwindbaren Hürde wird, ist schlicht nicht mehr zeitgemäß.
Noch einfacher wäre der Einsatz von Telefon- oder Video-Dolmetschern bei Rückfragen. Die Kosten dafür sind überschaubar – die Kosten für unnötige Ablehnungen und anschließende Widerspruchsverfahren sind es nicht. Auch Schulungen zu unbewussten Vorurteilen, wie sie in vielen Unternehmen längst Standard sind, könnten helfen. Denn wer nicht weiß, dass er voreingenommen urteilt, kann sein Verhalten auch nicht ändern.
Ein radikalerer, aber wirksamer Ansatz: die anonymisierte Erstprüfung. Wenn Sachbearbeiter zunächst nur die medizinischen Unterlagen sehen – ohne Namen, ohne Hinweise auf Herkunft oder Sprachkompetenz – können unbewusste Vorurteile gar nicht erst greifen. Erst wenn Rückfragen nötig werden, würde der Name sichtbar.
Langfristig braucht es politischen Willen. Die ärztliche Verordnung sollte in den meisten Fällen ausreichen, um ein Hilfsmittel zu erhalten – ohne dass Patienten zusätzlich seitenlange Begründungen liefern müssen. Bei teureren Hilfsmitteln könnte eine Begutachtung durch den Medizinischen Dienst erfolgen, so wie es bei Pflegegraden bereits der Fall ist. Das würde Objektivität schaffen und den Ermessensspielraum der Sachbearbeiter begrenzen.
Und schließlich: Wer Diskriminierung vermutet, braucht eine Anlaufstelle. Eine unabhängige Beschwerdestelle könnte systematische Muster aufdecken und für Transparenz sorgen. Denn solange niemand hinschaut, wird sich nichts ändern.
Bis diese Reformen greifen, müssen sich Betroffene selbst helfen. Sozialverbände wie der VdK oder der SoVD unterstützen kostenlos beim Ausfüllen von Anträgen – ein Angebot, das viel zu wenige kennen. Wer sprachliche Hürden fürchtet, sollte den Arzt direkt bitten, die medizinische Begründung besonders ausführlich zu formulieren. Ein detaillierter Arztbericht kann Sprachdefizite kompensieren.
Wird ein Antrag abgelehnt, lohnt sich der Widerspruch fast immer. Viele Ablehnungen werden in zweiter Instanz revidiert – oft reicht schon das Nachreichen fehlender Unterlagen. Auch Sanitätshäuser können wertvolle Verbündete sein: Sie haben ein eigenes Interesse daran, dass Anträge durchgehen, und helfen oft gerne bei der Formulierung.
Wer den Verdacht hat, aufgrund seiner Herkunft oder Sprache benachteiligt worden zu sein, sollte den Fall dokumentieren und sich an Antidiskriminierungsstellen wenden. Nur wenn solche Fälle sichtbar werden, entsteht der Druck, der Veränderungen erzwingt.
Die Zahlen sind eindeutig: Bei Pflegegraden werden Mutter- und Nicht-Muttersprachler praktisch gleich behandelt. Bei Hilfsmitteln wird jeder dritte Antrag von Nicht-Muttersprachlern abgelehnt – 2,6-mal so häufig wie bei Muttersprachlern.
Ob Sprachbarrieren, fehlende Unterstützung, strukturelle Unterschiede im Bewilligungsverfahren oder unbewusste Diskriminierung – wahrscheinlich wirkt alles zusammen. Was wir mit Sicherheit sagen können: Das aktuelle System schafft Ungleichheit, wo Gleichbehandlung versprochen wird.
Die Lösung liegt in mehr Standardisierung, weniger Ermessensspielraum, besserer sprachlicher Unterstützung und Sensibilisierung für unbewusste Vorurteile. Sprache darf nicht über Selbstständigkeit und Lebensqualität entscheiden.
Sicherstellung der Datenintegrität und statistischen Signifikanz
Für Rückfragen können Sie uns gerne eine E-Mail schreiben an info@pflege-helfer24.de
Diese Analyse basiert auf 1.224 Umfrageantworten von Personen, die in den letzten zwei Jahren Anträge auf Pflegeleistungen, Hilfsmittel oder Zuschüsse gestellt haben. Die Daten wurden zwischen November und Dezember 2025 erhoben. Die Unterscheidung zwischen Muttersprachlern und Nicht-Muttersprachlern basiert auf Selbstangaben der Befragten.